„Meine ersten Erfahrungen mit Schmuck waren schmerzhaft. Eine Erinnerung: Als queeres Kind im Nordosten Brasiliens aufgewachsen, erzählte ich meinen Eltern im Alter von 9 Jahren, dass ich mir die Ohren piercen lassen möchte. Mein Vater, hin- und hergerissen zwischen seiner verinnerlichten Homophobie und seinem Versuch, verständnisvoll zu sein, ging nach draußen, suchte den schärfsten Gegenstand, den er finden konnte- eine rostige Gartenharke – und
sagte mir, dass er mich damit selbst piercen würde. So sehr ich auch nachvollziehen kann, dass seine Haltung vor allem aus Unerfahrenheit mit meiner Einzigartigkeit und der Absicht, mich vor der Welt zu schützen, herrührte, war mir doch klar, dass mich eine Kultur umgab, in der die weibliche Aura von Schmuck sich gegen mich wandte, obwohl eben diese Aura mein tiefes Bedürfnis nach Ausdruck repräsentierte. Natürlich hielt ich an meinem Plan fest und ließ mir nur das linke Ohr piercen, vor allem, weil in Brasilien ein Piercing auf der rechten Seite das Zeichen für Homosexualität ist, und ich nicht bereit war, ein solches Signal zu akzeptieren. In den nächsten Jahren ließ ich mir dieselbe Stelle sechs oder sieben Mal stechen, da sie jedes Mal wieder zuwuchs. Ich frage mich, wie groß mein Bedürfnis war, mich zu schmücken, das mich dazu brachte, diese Behandlung an meinem eigenen Körper so oft zu wiederholen, bis ich endlich bekam, was ich wollte – Offenheit.
Es hat etwas Kraftvolles und Erfrischendes, ein Schmuckstück mit einem menschlichen Körper zu verbinden. Was mich an dem Medium reizt, ist gerade, welche Bandbreite von Erzählungen, Geschichten und Bedeutungen diese Verschmelzung erzeugen kann: Mit einem einfachen Ohrring hat mein 9-jähriges Ich eine Debatte über Geschlechterrollen und Sexualität ausgelöst. Der menschliche Körper selbst ist ein wiederkehrendes Thema in meiner Arbeit. Mein eigener Körper steht im Zentrum meiner intimsten Gefühle. Gefühle wie Einsamkeit, Verletzlichkeit
und die Unzulänglichkeit gegenüber einer normativen Gesellschaft sind meine primäre Inspira-tionsquelle, und ich möchte diese Emotionen auch nach außen tragen, um Empathie
und Intimität auszulösen. Die meisten meiner Werke basieren auf Kindheitstraumata, daher tauchen selbstverständlich Elemente aus dieser Zeit auf: Puppenteile werden mit primitiven Formen, humoristischen Elementen und organischen Materialien kombiniert, um komplexe Themen zu behandeln. In meinen Stücken wimmelt es von menschenähnlichen Formen, die häufig die Dualität in Frage stellen: Sex und Naivität, männlich und weiblich, niedlich und zornig, und so weiter.
Ein weiteres Element aus der Kindheit, das sich auf meine Arbeit auswirkt, sind Märchen, da kulturelle Themen wie Rassismus und Sexismus oft auf Märchen basieren. Mein Ziel ist es, einen politisierten Blick auf diese Geschichten zu eröffnen, indem ich zeige, wie sie sich auf das Verhalten von Erwachsenen auswirken, aber auch, um Narrative zu überwinden und zu verdrehen, die oft nicht-normative Körper ausschließen oder sie auf obskure Art und Weise darstellen. Dabei haben deutsche Volksmärchen sich als großer Beitrag zu meinem Kanon erwiesen, ebenso wie alte Spielzeuge, deren Mechanismen klare Erzählungen schaffen,
die mich faszinieren.
Im EMMA – Kreativzentrum Pforzheim habe ich das Universum meines inneren Kindes um die Szenarien erweitert, in denen es sich abspielt. Hierbei spielte auch die Einsamkeit während der Pandemie eine Rolle – der Archetyp des Hauses und der Wunsch, mich vor den Gefahren da draußen in Sicherheit zu bringen, sind in diesem Projekt sehr präsent. Mein Ziel für diese Ausstellung ist es, meine innere Welt zu materialisieren, so als ob ich die sicheren Wände des Puppenhauses bauen würde, das ich nie haben durfte.“ Caio Mahin, Juni 2021